Bonolino und die Wikingerinnen

Draußen war es weiß und kalt, denn es hatte geschneit. Drinnen war es gemütlich und warm, denn ich hatte geheizt. Mit einer Tasse Tee in der einen und einem Low-Carb-Keks in der anderen Hand stand ich versonnen am Fenster meines Gartenhäuschens, um den Schneeflocken beim Tanzen zuzusehen. Da plötzlich gab mein Computer das „E-Mail für Bonolino“-Signal von sich und riss mich aus meinen Tagträumen.

Post aus dem Varangerfjord in Norwegen! Ein Odinshühnchen namens Wotan machte sich Sorgen um die Elchkuh Ellen und das Weißwalweibchen Hvaldimira. Rasch machte ich mich auf den Weg.

„Gut, dass du da bist, Bonolino!“, empfing mich Wotan. Odinshühnchen zählen zu den Schnepfenvögeln bzw. Wassertretern. Und Wassertreten konnte das Hühnchen gut. Ich wollte Wotan schon fragen, ob er mit Nachnamen „Kneipp“ heiße, verkniff mir das aber im letzten Moment. Ich räusperte mich.

Bonolino trifft auf das Odinshühnchen Wotan

„Wie kann ich dir denn helfen?“, fragte ich.

„Die Angelegenheit ist etwas heikel“, antwortete Wotan und klapperte mit dem Schnabel. „Hvaldimira und Ellen haben sich in den Kopf gesetzt, Wikinger zu sein. Nun wollen sie sich ein Drachenboot bauen, Honiglimonade trinken und die Welt erobern.“

„Ein Wal und ein Elch. Oder spricht man bei den beiden besser von einer ‚Walin‘ und einer ‚Elchin‘? Als Wikingerinnen?“ Heutzutage muss man enorm aufpassen, was und wie man etwas sagt, ohne Tier, Pflanze, Pilz, Virus, Bakterium oder Geist auf die Füße, Pfoten, Tatzen, Flossen, Hufe, Krallen, Pranken, Tentakel, Wurzeln, Blätter, Myzelien, Spikes, Membranen oder Ektoplasmen zu treten. Ha! Hoffentlich habe ich jetzt nichts, niemanden und niemandin in meiner Aufzählung vergessen! Und falls doch – ich meine es nicht böse, ich bin halt nur ein schusseliges Nilpferd!

„So schaut’s aus, lieber Bonolino. Hvaldimira hält sich für eine Walküre und träumt von Walhalla, Ellen sucht noch nach einem passenden Helm mit Geweih. Ihrer Meinung nach tragen alle Wikinger Helme mit Knochenschmuck, und als Elchweibchen hat sie ja selbst kein Geweih. Hvaldimira hat sich bereits das Horn eines Narwals besorgt und auf ihrer Stirn befestigt.“

„Das hört sich doch alles relativ harmlos an“, antwortete ich.

„So scheint es auf den ersten Blick“, seufzte Wotan. „Aber die beiden haben eine Waldeidechse entführt, weil sie glauben, nur mit einem Reptil an ihrer Seite könnte ihr Schiff zu einem echten Drachenboot werden! Und das ist erst der Anfang. Eine einfache Eidechse reicht ihnen nicht. Sie wollen einen richtigen Drachen. Hvaldimira besteht natürlich auf einem ‚wal-isischen‘ Exemplar. Also einem roten Drachen aus Wales in Großbritannien.“

„Uppsala!“, entfuhr es mir erschrocken.

„Nur Ups! Uppsala ist eine Stadt in Schweden. Wir sind hier in Norwegen“, korrigierte mich Wotan.

„Tschuldigung!“

„Schon gut.“

„Dann wollen die beiden also auf Drachenfang nach Wales. Hmmmm …“

„Ja, schlimm! Und jetzt halt dich fest: Die Waldeidechse heißt Waldemar, hat sich mit den beiden angefreundet und duldet nun keinen echten Drachen mehr auf dem Boot. Da kracht‘s demnächst gewaltig!“

Klarer Fall von Stockholm-Syndrom: Der Entführte sympathisiert mit den Entführern, die eigentlich hinter schwedische Gardinen – also ins Gefängnis – gehören.

„Ihr habt hier schon ge-wal-tige Probleme. Wir müssen ein Thing, eine Versammlung, einberufen, damit die beiden zur Ordnung gerufen werden können“, stellte ich fest.

„Gute Idee, Bonolino“, stimmte mir Wotan zu. „Ich kümmere mich um das Thing.“

Ellen und Hvaldimira fanden sich bereitwillig zum Thing ein. Ich wandte mich zunächst an Hvaldimira. Da ich als Nilpferd selbst mit den Walen verwandt bin, hegte ich ein gewisses Verständnis für das ganze Wal-Gedöns.

„Liebe Hvaldimira, ihr könnt nicht einfach so Tiere entführen, um sie für eure Zwecke einzusetzen! Weder Eidechsen noch Drachen oder sonstige Lebewesen! Und ihr dürft auch nicht auf Raubzüge gehen!“

„Nein?“

„Ja! Äääh, nein! Du willst ja selbst auch nicht entführt oder bestohlen werden!“

„Hmmmm … Na gut, da hast du natürlich recht, das sehe ich ein. Ich bin aber eine Kämpferin. Eine Walküre! Was soll ich denn stattdessen tun?“

„Für was interessierst du dich denn sonst noch so?“, wollte ich wissen.

„Ich gehe den Dingen gerne auf den Grund“, antwortete Hvaldimira. „Decke gerne Unentdecktes auf.“

„Vielleicht solltest du für den Geheimdienst oder in der Tiefseeforschung arbeiten“, schlug ich schmunzelnd vor.

„Und was ist mit mir?“, schnaubte Ellen. „Ich eigne mich nicht als Taucherin.“

„Du bist aber sehr sportlich, die geborene Läuferin. Ich bin mit dem Weihnachtsmann in Finnland befreundet. Da lässt sich bestimmt etwas arrangieren.

Und so kam es, dass Hvaldimira ihr Narwalhorn gegen ein Periskop austauschte und als Agentin in der Barentssee nördlich von Norwegen auf Spionagestreifzüge ging.

Ellen fand tatsächlich eine Anstellung im finnischen „Renntier“-Team des Weihnachtsmannes. Neben dem Rentier Rudi mit seiner leuchtend roten Nase ist sie die einzige mit einer Sonderausstattung: einem Wikingerinnenhelm mit Elch-Geweih!

Weißwalweibchen Hvaldimira und Elchkuh Ellen


Weblinks: Wikipedia


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