Bonolino und die Vogelscheuche

Besorgt blickte ich aus dem Fenster. Ein Sturm zog auf und verhieß nichts Gutes. In der Nacht heulte und fegte der Wind um mein Gartenhäuschen, Regen prasselte ungestüm auf das Dach hernieder. MauMau, Knabber, Türülü und ich zuckten bei jedem Donnergrollen ängstlich zusammen.

Am nächsten Morgen hatte sich das Unwetter zum Glück verzogen, ohne größere Schäden zu hinterlassen. Das Wetter schlug in letzter Zeit viele Kapriolen, wie ich fand. So hatte in den vergangenen Tagen der von Afrika hergewehte Saharasand unter anderem den Pflastersteinweg zu meinem Gartenhäuschen mit einer gelben Staubschicht bedeckt. Das Gewitter hatte einiges davon weggespült, aber der Wind sorgte bereits wieder für bunten Nachschub: Bis zum Abend war die Umgebung wieder vollgestaubt. Meine Freunde und ich saßen beim Abendbrot zusammen, als irgendetwas an meiner Haustür kratzte. Huh! Was war das? Späte und unerwartete Besuche im Herbst schienen mittlerweile zur Gewohnheit zu werden. Unter größtem Unbehagen öffnete ich die Tür und schrie bei dem sich mir bietenden Anblick erschrocken auf! Vor mir erhob sich eine gruselige Vogelscheuche, die ebenfalls lauthals kreischte! Mit klopfendem Herzen trat ich ein paar Schritte zurück. Dann bemerkte ich, dass die Scheuche ebenfalls verängstigt war und versuchte, mich wieder zu beruhigen. Sie trug einen Kürbis als Kopf, darauf einen alten, löchrigen Hut und verschlissene Lumpen als Kleidung. Überrascht stellte ich fest, dass der Kürbiskopf mit Stroh gefüllt war und ein paar Halme aus Mund und Augen herausragten.

„Wer bist du und woher kommst du?“, fragte ich die unheimliche Erscheinung.

„Ich komme aus einem magischen Land“, antwortete die Vogelscheuche scheu. „Ein Wirbelsturm hat mich hergetragen, und ich möchte wieder nach Hause, weiß aber nicht, wie. Deshalb bin ich dem gelben Pflastersteinweg bis zu deinem Schloss gefolgt, großer Zauberer!“

„Ich bin kein Zauberer, sondern ein Nilpferd und heiße Bonolino“, sagte ich. MauMau schob sich an mir vorbei und musterte den schauerlichen Gast aufmerksam. Die Vogelscheuche machte große Augen, so dass man das Stroh in ihrem Kopf noch besser erkennen konnte.

„Dich kenne ich doch!“ Die Vogelscheuche blinzelte verwirrt und deutete mit einem dürren Arm auf die kleine, tapfere Katze. „Du bist der furchtsame, große Löwe! Hab dich aber irgendwie anders in Erinnerung.“

„Und du“, fuhr sie fort und wies auf meine Zinkgießkanne, die mit einem grünen Herz verziert war, „du bist der Blechmann!“

MauMau verdrehte die Augen. „Dich sticht anscheinend der Hafer. Warum trägst du Stroh in deinem Kopf?“

„Weil …“, die Vogelscheuche druckste herum. „Weil ich eigentlich sehr zaghaft bin. Sogar noch zaghafter als der furchtsame Löwe. Ich hatte gehofft, dass, wenn ich meinen Kopf mit etwas anderem fülle, dort kein Platz mehr für Bangigkeit bleibt.“

„Hat ja nicht viel gebracht, Strohkopf! Jetzt hast du neben Kleinmut auch noch Unverstand in deiner Rübe. Ich miste mal ein bisschen aus!“ Knabber sprang auf die Schulter der entsetzten Vogelscheuche und begann, das Stroh aus dem Kürbiskopf zu ziehen.

Knabber und Türülü ziehen der Vogelscheuche das Stroh aus dem Kopf

„Du musst die böse Hexe sein! Hör auf damit!“, kreischte sie. Türülü flog auf die andere Schulter und zwitscherte: „Genau! Und ich bin ein geflügelter Affe.“ Dann half er Knabber beim Großreinemachen. Nachdem sämtliches Kürbisgestrüpp auf dem Fußboden verteilt lag, schüttelte die Scheuche ihren Kopf und gab ein „Hmmmm“ von sich. „Fühlt sich besser an.“

Ein Schwarm Krähen tauchte am dunkler werdenden Horizont auf und ließ sich auf meinem Apfelbaum nieder. Die Vogelscheuche zuckte nervös zusammen und versuchte, sich hinter mir zu verstecken. Eine der Krähen flog heran und stellte sich vor: „Ich heiße Dorothee, und wir suchen gemeinsam nach unserer ausgebüxten Scheuche.“

„Ich bin nicht ausgebüxt, sondern hergewirbelt worden“, wisperte die Scheuche hinter meinem Rücken. „Außerdem machen mir diese großen Schnabeltiere Angst!“

„Solltest du nicht eigentlich Vögel verscheuchen, statt sie zu fürchten?“, fragte ich.

„Ja, aber sie setzen sich immer auf meine Arme und auf meinen Kopf!“, jammerte die Vogelscheuche.

„Aber doch nur, weil du so ängstlich bist“, krächzte Dorothee. „Wir passen auf dich auf, damit dir nichts passiert und damit du dich nicht einsam fühlst, wenn du allein auf dem Feld rumstehst!“

„Genau! Krakrakraaa!“, riefen die anderen Krähen aus dem Apfelbaum.

„Wirklich? Dann sind wir also Freunde! Und wie kommen wir jetzt wieder nach Hause?“

„Du brauchst natürlich Zauberschuhe!“, sagte MauMau und verschwand grinsend in meinem Geräteschuppen. Nach ein paar Minuten kam sie mit meinen alten roten Gummistiefeln wieder nach draußen und stellte sie vor der Scheuche ab. Hö?

„Probier die mal an.“

„Das sollen Zauberschuhe sein?“

„Klar! Reinschlüpfen, die Hacken zusammenschlagen, und los geht’s!“

Die Vogelscheuche zog die Gummistiefel an, und der Krähenschwarm ließ sich auf ihr nieder. Dann schlug die Scheuche die gestiefelten Fersen aneinander, winkte uns vergnügt zu und ploppte zusammen mit ihren neuen alten Freunden nach Hause.

Die Vogelscheuche begibt sich mit den Krähen auf den Heimweg

Ich drehte mich zu MauMau um. „Eine Gruselgestalt in roten Zaubergaloschen? Ernsthaft? Wie kamst du denn auf die Idee? Hast wohl zu viele Märchen gelesen.“

MauMau lachte: „Yep! Zuletzt ‚Der Zauberer von Oz‘. Und natürlich ‚Das gestiefelte Nilpferd‘!“

„Pöh! Du kannst mich nicht ärgern. Ich besorge mir jetzt grüne Gummistiefel!“


Weblinks: Wikipedia


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Auslandsreise-Schutz

Für die Vogelscheuche ging die wilde Reise in ein fernes, fremdes Land zum Glück glimpflich aus. Wer im Urlaub ins Ausland reist, sollte besser vorher eine private Auslandsreise-Krankenversicherung (z. B. bei der R+V Krankenversicherung AG) abschließen, um im Krankheitsfall vor hohen Kosten geschützt zu sein.