Bonolino und das Trampeltier

Ich saß gemütlich in meinem Ohrensessel, trank eine Tasse Tee und sah durch das Fenster den Schneeflöckchen beim Fallen zu. Ob sie sich dabei wehtaten? Anfangs vielleicht, aber die späteren Flöckchen fielen ja weich auf ihre Artgenossen. Andererseits waren sie ja viel zu leicht, um sich beim Sturz auf den Boden zu verletzen. Nein, den Schneeflöckchen ging es gut, egal ob sie früher oder später schneiten. Ich meinte, sie sogar kichern zu hören.

Derart in meine tiefgründigen Betrachtungen versunken, bemerkte ich zunächst gar nicht, dass mein Computer mir „E-Mail für Bonolino!“ zurief. Seufzend schob ich die warme, mit Kekskrümeln verzierte Wolldecke von meinen Beinen und setzte mich an meinen Schreibtisch. Die Nachricht stammte von einem Trampeltier aus Tibet namens Alice. Ein Trampeltier ist ein zweihöckriges Kamel, im Gegensatz zu den einhöckrigen Dromedaren. Es bat mich um meine Hilfe als Fremdenführer. Hö? Wer war denn nun fremd in diesem Land: ich oder Alice? Ich machte mich dennoch auf den Weg.

„Ich bin auf der Suche nach Shangri-La“, erklärte mir Alice nach meiner Ankunft.

„Und wer oder was ist Shangri-La?“

„Shangri-La ist ein geheimnisvoller Ort der Glückseligkeit, ein Paradies auf Erden! Irgendwo im Himalaya. Niemand weiß genau, wo er liegt, aber du findest ihn bestimmt!“ Alice guckte sehnsüchtig in die andere Woche.

„Alice sucht das Wunderland. Du willst mich wohl veräppeln?“ Misstrauisch beäugte ich das Trampeltier.

Alice verdrehte die Augen. „Bei Shangri-La handelt es sich um ein Lama-Kloster.“

„Du bist aber kein Lama. Das Wort Lama steht abgesehen davon auch nicht für südamerikanische Kamele, sondern für buddhistische Lehrer. Und überhaupt – was willst du denn da?“

„Hmmmpfff …“, Alice druckste rum. „Ich mag kein Trampeltier sein. Wenn schon Kamel, dann wenigstens ein Lama: elegant, grazil und ohne Höcker. Von mir denkt doch jeder, ich sei ein Trampel! Ich möchte irgendwohin, wo man mich in ein Lama verwandeln kann. In einem sagenhaften Lama-Kloster wird doch bestimmt gezaubert, oder?“

„Jetzt erzähle ich dir mal was.“ Ich packte mein Herkunftswörterbuch aus und legte los: „Die Bezeichnung Trampeltier leitet sich ursprünglich von dem im 13. Jahrhundert entstandenen Begriff Dromedar ab. Dromedar war damals die allgemeine Bezeichnung für Kamele. Daraus entwickelte sich dann ab dem 16. Jahrhundert, vermutlich aufgrund fehlerhafter Aussprache, das Trumeltier. Irgendwann wurde dann aus dem Trumeltier ein Trampeltier. Zur Unterscheidung der beiden Arten nannte man dann das einhöckrige Kamel Dromedar und das zweihöckrige Trampeltier. Die Bezeichnung Trampeltier hat also überhaupt nichts mit Trampeln zu tun. Du bist perfekt, genau so wie du bist. Wer etwas anderes behauptet, ist doof, gemein oder beides. Sooo!“

Alice blickte mich mit großen Augen an. „Echt jetzt?“

Bonolino liest Alice aus einem Wörterbuch vor

„Ja. Echt und ungelogen. Und als sogenannte Schwielensohler mit gepolsterten Fußsohlen gehört ihr geradezu zu den leichtfüßigsten Tieren überhaupt!“

„Wow! Das habe ich nicht gewusst.“ Alice war in Ehrfurcht erstarrt.

„Nun, jetzt weißt du es“, antwortete ich und nickte ihr aufmunternd zu. Und Shangri-La war vergessen.

Zu Hause setzte ich mich wieder in meinen Ohrensessel, beugte mich vornüber und wackelte mit den Zehen. Meine Füße waren viel größer und unförmiger als die von Alice. War ich denn in dieser Hinsicht nicht viel eher ein Trampeltier? Pöh! Und wenn schon! Ich bin eben ein Nilpferd und keine Gazelle.

Ein Hinweisschild zeigt den Weg nach Shangri-La

Einige Wochen später erhielt ich von Alice eine Postkarte aus China. Sie schrieb mir, dass sie in einem Porzellanladen eine Anstellung gefunden hätte und sich dort pudelwohl fühle. Der Ladenbesitzer, ein asiatischer Elefant, wäre so begeistert von ihrer Arbeit, dass er nun weitere Trampeltiere einstellen wolle. Na also. Geht doch!


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