Bonolino und der Hexenring

An einem schönen Herbsttag Ende Oktober machte ich mich auf in den Wald, um Pilze zu sammeln. Beim Gedanken an in Kräuterbutter gebratenen Champignons, Pfifferlingen, Steinpilzen und Maronen-Röhrlingen mit Frühlingszwiebeln lief mir bereits das Wasser im Mund zusammen. Miamm, miamm!

Sicherheitshalber hatte ich ein Pilzbestimmungsbuch eingesteckt, denn die essbaren Pilze unterscheiden sich äußerlich oft nur geringfügig von den giftigen Exemplaren. Vorsicht war also geboten! Türülü begleitete mich, um mir bei der Pilzsuche zu helfen. So wanderten wir frohgemut durch den Wald, erfreuten uns an den letzten Brombeeren und an leckeren Haselnüssen, die von den zahlreichen Eichhörnchen – insbesondere aber Knabber – noch nicht weggeputzt oder versteckt worden waren. Hach! Ich liebe den Herbst! Das Rascheln der bunten Blätter, wenn ich mit meinen Füßen … Moment mal! Das Laub neben mir raschelte, ohne dass ich mich bewegt hatte! Was war das? Erschrocken hüpfte ich zur Seite.

„Aua! Du hast mich getreten!“ Eine Schlange streckte ihren Kopf aus dem Blätter­haufen und funkelte mich vorwurfsvoll an.

„Ist die giftig?“, fragte ich Türülü im Flüsterton.

„Äääh, weiß nicht. Wie ein Giftpilz sieht sie nicht aus.“

„Nö. Eher wie eine zänkische Giftspritze.“ Ein zweiter Schlangenkopf erschien neben dem ersten. „Keine Sorge, Bonolino. Ich passe auf, dass sie dir nichts tut.“

„Nenn mich nicht Giftspritze, du Regenwurm! Ich bin eine Kreuzotter!“, giftete die erste Schlange.

„Aber du bist doch auch eine Schlange!“, rief Türülü aufgeregt der zweiten Schlange zu.

„Stimmt. Aber eine Ringelnatter – also ungiftig. Und definitiv kein Regenwurm!“

„Ich will euch doch gar nichts Böses tun“, zischelte die Kreuzotter beschwichtigend. „Ihr solltet euch vielmehr darüber Sorgen machen, dass ihr mitten in einem Hexenring steht …“

In der Zwischenzeit war die Dämmerung angebrochen und ich befand mich tatsächlich in einem Kreis aus Pilzen, der im Volksmund Hexenring genannt wird. Ängstlich schaute ich mich um. Dann wurde ich mit Schrecken gewahr, dass heute der 31. Oktober war. Halloween. Die Nacht der Geister, Hexen und Dämonen. War etwa eine Hexe in der Nähe? Schwarze Katzen waren häufige Begleiter dieser Scheusale. DA! War da nicht ein Schatten? Womöglich eine Hexe, die ihren Ring aufsuchte? Aus der Dunkelheit schälte sich eine schwarze Katze … Ich schrie entsetzt auf!

„Warum brüllst du so, Bonolino?“, fragte mich Türülü neugierig.

„Da, da, da … eine Hexenkatze! Gleich kommt die alte Hexe auch um die Ecke!“, stotterte ich.

„Aber das ist doch nur MauMau!“, lachte Türülü. Und tatsächlich, da war unsere kleine schwarze Freundin und schaute uns mit großen grünen Augen fragend an.

„Was ist denn hier los?“, maunzte MauMau. „Ich habe euch schon überall gesucht. Wir wollten doch zum Gruselkürbisfest!“ Im Nu waren die Hexen vergessen. Schließlich gab es ja nicht wirklich welche, nicht wahr? Und MauMau war das liebenswerteste Geschöpf, das man sich vorstellen kann. Sie würde keiner Maus etwas zu Leide tun.

„Genau! Auf zum Gruselkürbisfest!“, rief ich gut gelaunt.

Vogelscheuche mit Gruselkürbisfest-Wegweiser

„Bitte, bitte. Dürfen wir mitfeiern?“, riefen die Kreuzotter und die Ringelnatter wie aus einem Mund.

MauMau scherzte: „Na klar, uns fehlen noch jede Menge Luftschlangen!“ Daraufhin schlossen sich noch ein paar Blindschleichen unserer Gesellschaft an und gemeinsam machten wir uns auf den Weg zum Gruselkürbisfest. Da die Blindschleichen nicht zu den Schlangen sondern zu den Echsen zählen, verkleideten sie sich als „Schrecksen“. Türülü färbte sich den Schnabel mit Kohle dunkel und erklärte sich zum Raben Abraxas. MauMau hingegen verkleidete sich als schwarze Katze – also gar nicht. Es kostete uns einige Mühe sie zu überreden, sich doch wenigstens einen kleinen Hexenhut aufzusetzen. Und die Zwergfledermaus Mucki? Die verwandelte sich mithilfe eines Turbans in den „kleinen Muck“.

Ich selbst war noch unschlüssig, als was ich gehen sollte. Zuerst dachte ich an die Muhme Rumpumpel aus Otfried Preußlers „Die kleine Hexe“, aber meine blaue Hautfarbe verriet mich. Denn wie ja jeder weiß, haben Hexen neben einer krummen Nase samt haariger Warze und einem Hexenbuckel eine grüne Gesichtsfarbe. Daher beschloss ich, mich statt als Muhme als Mumie zu kostümieren. Meine Freunde halfen mir, mich mit unzähligen Rollen Toilettenpapier in eine solche zu verwandeln.

Dann entdeckte ich Knabber. Das Eichhörnchen steckte in einem dunkelgrünen, kugelförmigen Kostüm, hatte seine Puschelohren zu Hörnern geformt und pferdehufartige Pantoffeln an den Füßen. Hö? Was für eine Verkleidung sollte das denn sein?

Bonolino und seine Freund in Halloween-Kostümen

„Der Teufel ist ein Eichhörnchen!“, antwortete Knabber grinsend. Das Sprichwort hatte ich schon einmal gehört, wusste aber nicht, was es bedeutete.

Türülü lachte: „Du siehst eher aus wie des Teufels Avocado!“

„Hmmm ... Knabber, was soll dein Kostüm denn nun darstellen?"

„Ist doch egal!“, rief Knabber, „Hauptsache, es sieht lustig aus und macht Spaß!“

Und wo das Eichhörnchen Recht hatte, hatte es Recht! Knabbers Kostüm war wahrhaftig das komischste, dass ich je gesehen hatte. Und etwas hatte ich an diesem Abend auch gelernt: Nicht alle Tiere, die auf den ersten Blick angsteinflößend wirken, sind auch wirklich gefährlich. Sogar die dicke Spinne aus meiner Vorratskammer, vor der ich mich immer etwas gefürchtet hatte, entpuppte sich als umgänglich und gesellig. Wir feierten bis zum Morgengrauen, und selten war ein Gruselkürbisfest so lustig und ununheimlich! Happy Halloween!


Weblinks: Wikipedia


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