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/Newsletter 2021/01

Lockdown oder Knockdown?

Wie geht es unseren Kindern und Jugendlichen? Wir sprechen mit der Kinder- und Jugendärztin Dr. Gabriele Trost-Brinkhues.

Seit gut einer Woche ist das Thema „Lockdown und was bedeutet das konkret für Kinder und Jugendliche“ in aller Munde. Junge Menschen sind gesundheitlich durch das Coronavirus zwar durchschnittlich weniger gefährdet, umso stärker sind sie jedoch von den Maßnahmen zur Virus-Eindämmung und den damit verbundenen sozialen Einschränkungen und wirtschaftlichen Folgen betroffen. Das Kinderzimmer wird zum Ort für Homeschooling, Freizeit, Wohnen und Schlafen. Was hat das für gesundheitliche Folgen für die Jüngsten in unserer Gesellschaft? Wir fragen nach.


Gabriele Trost-Brinkhues
Foto: Dr. Gabriele Trost-Brinkhues
Kooptiertes Mitglied im Bundesvorstand Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e. V.
Mitglied im erweiterten Vorstand Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD).
Ausschusssprecherin „Kind, Schule, ÖGD“ sowie „Kinder- und Jugendgesundheitsdienst“.
Mitglied im erweiterten Vorstand Kindernetzwerk e. V.

Liebe Frau Dr. Trost-Brinkhues, Sie sind seit vielen Jahren von Berufs wegen für die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen im Einsatz. Was hat sich seit dem Lockdown verändert?

Dr. Trost-Brinkhues: Gerade für die persönliche Entwicklung junger Menschen sind soziale Begegnungen und der direkte Kontakt zu Freunden sehr wichtig. Es sind also im letzten Jahr nicht nur Bildungslücken, sondern auch Bindungslücken entstanden. Kitas im Notbetrieb, Schulen zu bzw. im Homeschooling (was mehr oder weniger funktioniert), Homeoffice, Kurzarbeit, erschwerte Arbeitsbedingungen, fehlende Arbeit, vielleicht Geldsorgen, sogar Existenzsorgen. Und wenn das dann plus Homeschooling laufen soll – wer hat behauptet, dass das geht? Da können sich „Nichteltern“ kaum eine Vorstellung von machen!

Hinzu kommt: kein Sport, kein Verein, kein Kontakt mehr zu anderen – dabei brauchen wir Menschen einander. Kinder brauchen Kinder und auch Omas und Opas, Eltern brauchen ihre Freunde und andere Familien. Die körperlichen und insbesondere die psychischen Belastungen sind erhöht. Und wieder trifft es besonders bildungsferne und psychosozial belastete Menschen, Familien, Kinder deutlich härter.

Gibt es konkrete Auswirkungen auf Psyche und Körper?

Dr. Trost-Brinkhues: Positiv lässt sich festhalten, dass der Zusammenhalt innerhalb der meisten Familien nun größer ist und sich das Gemeinschaftsgefühl verbessert hat. In der Not zusammenzuhalten klappt in der Regel halt immer ganz gut. Zumindest eine Zeit lang. Die Kehrseite ist natürlich, alle bewegen sich weniger. Durch die Kontaktbeschränkung sind die Menschen öfter allein, vermeintlich aufschiebbare Arztbesuche und Gesundheitsvorsorgen werden verschoben, manches dadurch sogar verschleppt. Es gibt schneller Streit in der Familie, Stress, der „Auslauf“ fehlt. Nicht zu vergessen, die massive Nutzungszunahme von Handy, PC und Fernseher, vor allem bei Kindern und Jugendlichen. Ein oft sehr einseitiger Konsum, der dem Körper generell nicht guttut.

Und die Psyche?

Dr. Trost-Brinkhues: Ja, es hat Auswirkungen. Es belastet die Psyche von allen: von Kindern, von Jugendlichen, von Eltern, von Alleinlebenden und auch von älteren Menschen. Bei Kindern und Jugendlichen kommt erschwerend hinzu, dass sie sich in den normalen Entwicklungsaufgaben – vor allem dem sozialen Lernen – nicht frei entfalten können und das belastet. Vor dem Lockdown waren es statistisch bis zu 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen, die psychisch auffällig waren (nicht psychisch krank!!!). Heute sind es der COPSY Studie – eine zweite Befragung von Kindern und Jugendlichen – zufolge bereits 30 Prozent. Was aber in der Natur der Sache liegt, da JEDER zurzeit psychisch belastet ist.

Ihre Erklärung dafür?

Dr. Trost-Brinkhues: Wir sind es eben nicht gewohnt mit Einschränkungen, wie sie zu Pandemiezeiten existieren, zu leben. Alles soll so weiterlaufen wie bisher. Egal, ob Arbeit, Schule oder familiäre Abläufe. Zudem sind manche Kinder daran gewöhnt, von ihren „Curling-Eltern“ den eigenen Weg ideal aufbereitet und begradigt vorzufinden (wie beim Eisstockschießen). Sie haben nicht gelernt, mit einer Niederlage oder mit Unwegsamkeiten umzugehen. Nun die Dinge auszuhalten, die wir nicht ändern können, fällt schwer. Die vorherrschende Frustrationstoleranz in den meisten Familien ist daher aktuell sehr niedrig.

Was also tun?

Dr. Trost-Brinkhues: Es gilt, von klein auf Selbstwirksamkeit zu lernen, an kleinen Erfolgen und Misserfolgen innere Stabilität, aber auch Frustrationstoleranz aufzubauen und natürlich zusammenzuhalten. Und idealerweise den Druck rauszunehmen. Langsamer machen. In der ersten Welle des Lockdowns funktionierte das, in der zweiten fällt es uns schon schwerer. Aber wir müssen lernen, mit Einschränkungen umzugehen. Es hat einfach viel mit Disziplin zu tun. Und der Sicht auf die Dinge: Ist das Glas halb leer oder halb voll? Es täte uns allen gut, das Glas öfter halb voll zu sehen.

Wie können Eltern ihre Kinder denn zu Hause unterstützen?

Dr. Trost-Brinkhues: Die Kinder brauchen eine Struktur, also klare Regeln und Zeiten: Wann ist Arbeitszeit, wann ist Pausenzeit, wann sind wir draußen. Austoben, Spaß haben und neue positive Energie tanken. Gemeinsam den Haushalt machen, gemeinsam Essen vorbereiten und gemeinsam die Mahlzeiten zu sich nehmen – darin steckt auch eine große Chance! Klug ist es zudem, sich in der Kinder- und Hausaufgabenbetreuung abzuwechseln. Und manchmal muss das Homeoffice-Telefonat halt auch an zweiter Stelle stehen. Und in der Pubertät darf auch mal gechillt werden. Und es wird sehr stressig, wenn die Geräuschkulisse zu laut ist. Gerade enge Wohnverhältnisse sind ein hoher Stressfaktor. Auch da hilft ein Plan, eine Struktur.

Das hört sich doch alles sehr nachvollziehbar an.

Dr. Trost-Brinkhues: Ja, vieles ist nicht unbedingt neu, muss aber neu aus der Kiste gekramt werden. Denn auch eine andere Haltung, eine andere innere Einstellung hilft. Das Schimpfen auf irgendjemanden der „Schuld“ ist, macht nur noch mehr unzufrieden. Fragen wir uns lieber: Wie schaffen wir es bis in den Sommer zu kommen, wenn wir vermehrt draußen sein können, wenn wir uns draußen wieder mit einer kleinen Zahl von Menschen treffen können, wenn wir geimpft werden können. Eine Pandemie ist kein 100-Meter-Lauf, es ist mehr ein Marathon.

Wenn der Lockdown irgendwann zur Geschichte gehört, was ist dann wichtig für die Kinder? Muss vieles aufgearbeitet werden? Sollten Eltern besonders großzügig sein?

Dr. Trost-Brinkhues: Viel Bewegung und für sportlichen Ausgleich sorgen ist mein Tipp. In Vereinen, mit anderen Kindern und gerne auch generationsübergreifend zusammen sein, wäre ideal. Und „großzügig sein“ hört sich gut an, ist aber leider weder der passende Begriff noch die passende Einstellung. Wie eingangs beschrieben, hilft Verwöhnen den Kindern und Jugendlichen leider nicht weiter. Also bitte nicht immer alle Anstrengungen der Jüngsten aus dem Weg räumen, denn das Leben bringt immer Höhen und Tiefen mit sich. Dafür gilt es gerüstet zu sein. Sich gegenseitig helfen und Hilfe annehmen können, das sind wichtige Eckpfeiler. Das beliebte Jammern ändert nämlich die Situation nicht und verschlechtert nur die Stimmung. Klare Regeln, kleine Erfolgserlebnisse, eine gewisse Frustrationstoleranz entwickeln! Denn es werden mit Sicherheit pandemiebedingt auch im Verlauf des Jahres weitere Anforderungen kommen.

Noch ein persönliches Wort Ihrerseits?

Dr. Trost-Brinkhues: Zunächst einmal: Niemand hat sich die Pandemie gewünscht, viele haben nicht geglaubt, was für gravierende Auswirkungen eine solche Pandemie hat und was uns erwartet – und wir sind noch lange nicht durch! Trotzdem möchte ich noch einmal an das halb volle Glas erinnern: Dass wir nach einem Jahr mehrere Impfstoffe haben, ist eine unglaubliche wissenschaftliche Leistung; das Frühjahr steht vor der Tür mit mehr Licht und Optionen und die meisten von uns haben eine beheizbare Wohnung, warmes Wasser, Dusche, Toilette und was zu essen auf dem Tisch. Wir sind nicht auf der Flucht und im Gegensatz zu Generationen vor uns, haben wir heute die technischen Möglichkeiten mit anderen Menschen in der Ferne regen Kontakt zu halten mit Bild und Ton. Diese Fakten ändern natürlich nicht die erschreckenden Umstände einer Pandemie, können den persönlichen Umgang mit dieser aber bei näherer Betrachtung erleichtern.

In diesem Sinne wünsche ich allen Eltern und Kindern (womöglich diese Woche bereits in der Schule) positive Gedanken, Kraft und alles erdenklich Gute.


Das Interview führte unsere Kollegin Sylvia Podszun, selbst zweifache Mutter. Sie versucht seit dem Gespräch mit Frau Dr. Trost-Brinkhues, das Glas nun öfter halb voll zu sehen.

Frau Dr. Trost-Brinkhues schöpft ihr Wissen

  • aus ihrer 40-jährigen Erfahrung als Kinder- und Jugendärztin mit dem Fokus auf die körperliche, geistige und psychische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen,
  • aus der Taskforce mit wöchentlichen Konferenzen der deutschen pädiatrischen Fachgesellschaften und den daraus entstehenden Empfehlungen,
  • aus den wöchentlichen Konferenzen des ÖGD, wo sie für die Kinder- und jugendärztlichen/schulärztlichen Dienste die Verbindung zu den Schulen ist,
  • aus den täglichen Informationen des Online-Infodienstes des Ärzteblatts,
  • und nicht zuletzt aus den Anfragen an das Kindernetzwerk e. V. – dem Dachverband der Selbsthilfeorganisationen von behinderten und schwer erkrankten Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen.